top of page

 FROM BALKAN WITH LOVE? 

JUGOSLAWIENBILD IN DER SCHWEIZER GESCHICHTSKULTUR

​

Die Geschichte der Schweiz ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eng mit dem ehemaligen Jugoslawien verflochten – wirtschaftlich, politisch und vor allem biografisch. Um die Jahrtausendwende stellten Menschen aus Ex-Jugoslawien beinahe ein Viertel der ausländischen Wohnbevölkerung; heute hat ungefähr jede siebzehnte Person in der Schweiz familiäre Wurzeln in diesem Raum (Swissinfo.ch, 2019). Diese demo-graphische Präsenz ist das sichtbarste Echo einer langen Migrations- und Verflechtungsgeschichte, die in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch meist auf ein Konflikt- und Zerfallsnarrativ reduziert wird.

​

Diese Wahrnehmungstradition knüpft an ein überkommenes «Balkanbild» an, das den Raum als konflikthaft und rückständig darstellt. Die Historikerin Maria Todorova hat in «Imagining the Balkans»  gezeigt, dass der Balkan in der europäischen Vorstellungswelt als ein «inneres Anderes»  konstruiert wurde: nicht gänzlich fremd wie der Orient, aber auch nicht voll und ganz Teil Europas (Todorova, 2019). Er erscheint als Zwischenraum, dem Gewalt, Chaos und Zivilisationsrückstand zugeschrieben werden. Diese Sichtweise wirkt bis heute fort und prägt auch die schweizerische Geschichtskultur.

​

Das verbreitete negative Jugoslawienbild zeigt sich beispielsweise in offenkundig abwertenden Bezeichnungen wie «Jugo», die Menschen auf ihre Herkunft reduzieren, oder in Schlagwörtern wie «Balkanschläger» und «Balkanraser»„ die sich politisch instrumentalisieren lassen (Pavić, 2020). Auch in vermeintlich harmloseren Varianten haben sich solche Stereotypisierungen in eine breitere gesellschaftliche Geschichtskultur eingeschlichen.

​

So veröffentlichte das Migros Magazin 2020 unter dem Titel «From Balkan with Love» ein Dossier, das eigentlich eine Hommage an die Diaspora sein sollte, aber fast nur Klischees wiederholte: Trainerhosen, «witzige» Schrebergärten, nette Taxifahrer oder autobegeisterte Männer (Migros Magazin, 2020). Dieses Beispiel macht deutlich, wie tief stereotype Vorstellungen sitzen – und wie selten die vielschichtigen und verflochtenen Geschichten der ex-jugoslawischen Diaspora in der Schweiz wirklich erzählt werden.

​

JUGOSLAWIEN IM SCHWEIZER GESCHICHTSUNTERRICHT

​​​

Die Geschichte Jugoslawiens nimmt im Geschichtsunterricht an Schweizer Schulen bislang eine marginale Role ein und erscheint auf der mentalen Landkarte höchstens als Randnotiz. In Lehrmitteln wird Jugoslawien meist auf einer einzigen Doppelseite abgehandelt und nahezu ausschliesslich auf die Kriege der 1990er-Jahre reduziert. Selbst dort, wo dem Thema etwas mehr Raum eingeräumt wird, dominiert weiterhin ein Kriegs- und Zerfallsnarrativ, das die vielschichtigen historischen Prozesse und gesellschaftlichen Entwicklungen ausblendet. Diese Verengung auf ein negatives Jugoslawienbild verdeutlicht, dass der Geschichtsunterricht stets in eine konkrete Gesellschaft und ihre Geschichtskultur eingebettet ist und sich nicht unabhängig von deren Vorstellungen und Deutungsmustern verstehen lässt (Gautschi 2009: 34).

​

Für Lehrpersonen ergibt sich daraus eine komplexe Herausforderung: Sie müssen nicht nur historische Inhalte vermitteln, sondern zugleich mit gesellschaftlich tief verankerten Stereotypen umgehen und die biografische Betroffenheit der Lernenden angemessen berücksichtigen. Die gängigen Lehrmittel helfen oft nicht weiter. Julia Thyroff, die an der PH FHNW ein Forschungsprojekt zur Vermittlung der Jugoslawienkriege leitet, identifiziert im Wesentlichen drei Probleme in gängigen Geschichtslehrmittel: Sie reproduzieren erstens unkritisch problematische Stereotype wie das vom «Pulverfass Balkan», und erzählen eine geglättete Geschichte, die Jugoslawien einseitig auf Zerfall und Krieg reduziert. Zweitens klammern sie zentrale Kontroversen systematisch aus, wie die verharmlosende Bezeichnung «Massaker» für den Genozid von Srebrenica oder die unsichtbare Behandlung der ambivalenten Rolle internationaler Akteure wie UNO und NATO zeigt. Und drittens fehlt in den Lehrmitteln der Bezug zu den Biografien der Lernenden (vgl. Thyroff, 2020a).

​

Angesichts dieser komplexen Problematik zögern Lehrpersonen häufig, die Jugoslawienkriege im Unterricht zu thematisieren. Das Kernproblem bringt der Geschichtsdidaktiker Dominik Sauerländer wie folgt auf den Punkt: «Wir wissen schlichtweg zu wenig darüber, und die Unversöhnlichkeit der Positionen und Sichtweisen ist uns fremd» (Sauerländer, 2020: 173). Hinzu kommen Sprachbarrieren beim Zugang zu relevanten Quellen sowie die Sorge vor einer emotionalen Überforderung der Lernenden mit ihren biografischen Bezügen. Dennoch betont Sauerländer: «Aus Rücksicht auf die Kinder und Jugendlichen nicht an Traumata rühren und das Thema totschweigen, kann nicht die Antwort sein.» (Ebd.: 171)

​

Gerade weil das Thema einen hohen Gegenwartsbezug hat und für viele Lernende aufgrund ihrer Biografien von unmittelbarer Lebensweltrelevanz ist, bietet es ein enormes Potenzial für Sinnbildung (Baumgärtner, 2015). Es kann nicht nur gesellschaftliche Orientierung vermitteln, sondern auch das individuelle historische Denken vertiefen und zur Reflexion über Stereotype, Fremd- und Selbstbilder anregen (Thyroff, 2020b). All dies unterstreicht die Dringlichkeit, Jugoslawien zu einem festen Bestandteil des Schweizer Geschichtsunterrichts zu machen und dabei über das reduzierte Kriegs- und Zerfallsnarrativ hinaus differenziertere Zugänge zu entwickeln.

​

PROJEKT ABC-JUGOSLAWIENS

​​​

An diesem Punkt setzt unser Pilotprojekt «ABC Jugoslawiens» an: Mit unseren Unterrichtsmaterialien versuchen wir, die in der schweizerischen Geschichtskultur verankerten Stereotype bewusst zu thematisieren und zu dekonstruieren. Unser Ziel ist es, dem Zerfallsnarrativ und der Wahrnehmung Jugoslawiens als blossen Konfliktraum, die in der neueren Forschung längst überholt sind, eine differenzierte Darstellung entgegenzusetzen, die die historische Vielfalt, Kontinuität und Eigenständigkeit des jugoslawischen Raums würdigt (Calic, 2018).

​

Unsere Materialien sind speziell auf den schweizerischen Kontext zugeschnitten. Mit dem Ansatz der Verflechtungsgeschichte erschliessen wir Verbindungen, die über eine reine Migrationsgeschichte hinausgehen. Im Zentrum stehen dabei auch gesellschaftliche und politische Parallelen, die Thomas Bürgisser als «Wahlverwandtschaft zweier Sonderfälle» beschrieben hat (Bürgisser, 2017). So lassen sich etwa Jugoslawiens blockfreie Aussenpolitik und die schweizerische Neutralität einander gegenüberstellen, ebenso wie der föderale Staatsaufbau beider Länder oder der Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt. Diese Perspektiven eröffnen den Lernenden die Möglichkeit, historische Erfahrungen aus zwei unterschiedlichen Kontexten miteinander zu vergleichen und kritisch zu reflektieren. Themen wie Migration, Diasporakultur, Integration und Identitätsfragen werden im gesellschaftlichen und historischen Kontext der Schweiz verankert, um eine greifbare und praxisnahe Perspektive für die Lernenden zu schaffen.

​

Das Projekt richtet sich an Schulklassen der Sekundarstufe II. Es soll Lehrpersonen entlasten, denen aufgrund knapper Zeitressourcen im Schulalltag häufig die Möglichkeit fehlt, sich vertieft in neue Themen einzuarbeiten. Mit unserem fachlichen Wissen und didaktisch aufbereiteten Materialien stellen wir ihnen Instrumente zur Verfügung, die eine fundierte und differenzierte Behandlung des Themas im Unterricht ermöglichen. Kern des Angebots ist der Workshop «ABC Jugoslawiens», eine interaktive Doppellektion, die den Lernenden einen strukturierten Einstieg in die Geschichte und den Raum Jugoslawiens bietet. Dieser Workshop kann direkt in den Schulklassen durchgeführt werden; alternativ können Lehrpersonen die Materialien auch beziehen und selbstständig einsetzen.

LITERATUR

​

Baumgärtner, Ulrich (2015). Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn: UTB.

Bürgisser, T. (2017). Wahlverwandtschaft zweier Sonderfälle im Kalten Krieg. Schweizerische Perspektiven auf das sozialistische Jugoslawien 1943-1991. Bern: Quaderni di Dodis, Diplomatische Dokumente der Schweiz.

Calic, M.-J. (2018). Geschichte Jugoslawiens. München; C.H. Beck.

Gautschi, P. (2009). Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Migros Magazin (2020). From Balkan With Love. Nr. 25, 15. Juni 2025. Zürich: Migros-Genossenschafts-Bund.

Pavić, K. (2020). Das «Serbenbild» während der Jugoslawienkriege in der Schweiz. In: J. Thyroff & B. Ziegler (Hrsg.), Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung, Zürich: Chronos Verlag, S. 87–100.

Sauerländer, D. (2020). Jugoslawienkriege im Geschichtsunterricht in der Schweiz. Tagungskommentar. In: J. Thyroff & B. Ziegler (Hg.), Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung. Zürich: Chronos Verlag, S. 171–188.

Swissinfo.ch (2024). Wie die Schweiz mit Jugoslawien ins Geschäft kam, Stand: 24.09.2025.

Thyroff, J. (2020a). Die Jugoslawienkriege als Unterrichtsthema in der Schweiz. Der Lehrplan 21 für die Sekundarstufe I und darauf abgestimmte Geschichtslehrmittel. In: Thyroff, J. & Ziegler, B. (Hg.), Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung. Zürich: Chronos Verlag, S. 61-72.

Thyroff, J. (2020b) Die Vermittlung der Jugoslawienkriege als Herausforderungsgefüge - Bestandsaufnahme und Problemaufriss aus geschichtsdidaktisch-theoretischer Perspektive. In: Thyroff, J. and Ziegler, B. (Hg.) Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung. Zürich: Chronos Verlag, S. 37-60.

Todorova, M.N. (2009). Imagining the Balkans, New York: Oxford University Press.

© 2025 mostKollektiv

bottom of page