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 GESCHICHTE NEU ERZÄHLEN 

ZWISCHEN REALITÄT UND MYTHOS

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Die Schweiz ist längst eine Migrationsgesellschaft – das belegen aktuelle Zahlen unübersehbar: Ein Viertel der Bevölkerung besitzt keinen Schweizer Pass, 40 % der ständigen Wohnbevölkerung haben einen Migrationshintergrund, und bei Kindern und Jugendlichen ist es bereits mehr als die Hälfte (Swissinfo.ch, 2025). Doch diese demografische Realität spiegelt sich bis heute kaum in politischen Selbstbildern oder institutionellen Strukturen. Was einst als vorübergehende ökonomische Notwendigkeit gedacht war, hat die Gesellschaft dauerhaft verändert. Max Frischs berühmtes Diktum – «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen» – markiert ein Dilemma, das die Schweiz bis heute begleitet: das Verhältnis zur eigenen Einwanderungsgeschichte (Frisch, 1967: 100).

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Besonders augenfällig wird diese Spannung im Umgang mit Sprache. Während die offizielle Schweiz stolz auf ihre “viersprachige Nation" verweist – als Ausdruck nationaler Einheit in Vielfalt – spricht seit 2020 etwa 24 % der Bevölkerung im Alltag eine andere Hauptsprache als eine der vier Landessprachen (Bundesamt für Statistik, 2025). Damit hat diese Gruppe das Französische bereits als zweithäufigste Sprache überholt. Der Begriff der «fünften Landessprachen» fasst diese erinnerungskulturelle Verschiebung: Er macht sichtbar, wie sehr die gelebte Mehrsprachigkeit der Schweiz über die offizielle Selbstdarstellung hinausgewachsen ist und den Mythos der geschlossenen viersprachigen Gemeinschaft aufbricht.

 

SCHWEIZER GESCHICHTE ALS MIGRATIONSGESCHICHTE

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Die heutige Gesellschaft der Schweiz ist das Ergebnis mehrerer aufeinanderfolgender Migrationswellen seit den 1950er-Jahren – und zugleich Teil einer langen historischen Kontinuität. Denn, wie der Historiker André Holenstein betont, war «Migration schon immer historische Normalität»  und Schweizer Geschichte ohne Migrationsgeschichte undenkbar (Holenstein, 2020: 11f.).

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In der Nachkriegszeit strömten zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren Hunderttausende Arbeitsmigrant*innen zunächst aus Italien, später aus Spanien, Portugal und dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz, um den akuten Arbeitskräftemangel zu decken. Sie bauten Strassen und Tunnel, arbeiteten in Fabriken und auf Baustellen, im Gastgewerbe und in der Landwirtschaft – und wurden zu tragenden Kräften des Wirtschaftsaufschwungs. In den 1990er-Jahren flüchteten Menschen vor den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. Seit 2002 erleichtert das Personenfreizügigkeitsabkommen die Zuwanderung aus der EU, während die Schweiz vor allem auch Geflüchtete aus Syrien (ab 2015) und der Ukraine (ab 2022) aufnahm. Dennoch wurden und werden nach wie vor zahlreiche Menschen auch abgewiesen, nur vorläufig aufgenommen oder über Jahre in Unsicherheit gehalten, während sie auf einen Entscheid warten müssen.

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Trotz ihres fundamentalen Beitrags zum Wohlstand begegnete die Schweizer Bevölkerung diesen Entwicklungen nicht immer mit Offenheit. Vor dem Hintergrund von Überfremdungsängste wurde Migration zu einem gesellschaftlich umstrittenen Thema, wie die Schwarzenbach-Initiative von 1970 zeigt. Obwohl die Initiative mit 54 Prozent Nein-Stimmen knapp verworfen wurde, begründete sie eine jahrzehntelange Tradition von Abstimmungen über Migration und Fremdheit. Migration bleibt auch in der Gegenwart ein hochumkämpftes gesellschaftliches Terrain. Zwischen Sicherheitsdebatten, populistischen Zuspitzungen und solidarischen Initiativen spiegeln sich darin zentrale Konfliktlinien unserer Gegenwartsgesellschaft.

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MIGRATION NEU ERZÄHLEN

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Menschen mit Migrationshintergrund sind längst fester Bestandteil der Schweizer Gesellschaft, dennoch bleiben sie von strukturellen Ungleichheiten betroffen. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich stark je nach Herkunft und zugeschriebenem «Anderssein». So sind arabisch, schwarz oder muslimisch gelesene Menschen seit Jahrzehnten strukturellem Rassismus und gesellschaftlicher Stigmatisierung ausgesetzt, während andere Gruppen wie Expats auf eine eher privilegierte Aufnahme stossen. Diese Unterschiede machen deutlich, dass in der Schweiz tief verankerte Hierarchien der Zugehörigkeit bestehen und dass Migration nicht nur ein rechtliches oder ökonomisches Phänomen ist, sondern immer auch kulturell gedeutet und von politischen Machtfragen geprägt wird.

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Hier setzt unser Bildungsprojekt «ABC Jugoslawiens»  an. Wir verstehen uns in diesem Spannungsfeld als prospektive Intervention, die migrationsgesellschaftliche Realitäten ernst nimmt, tradierte Stereotype hinterfragt und Lehrpersonen als auch Lernenden Werkzeuge bietet, um differenziert über Migration, Zugehörigkeit und Geschichtsbilder zu reflektieren. Am Beispiel der jugoslawischen Migration – mit rund fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung eine der grössten Diaspora-Communities des Landes – wollen wir Wege eröffnen, aus den Polarisierungen der Gegenwart auszubrechen und Räume für kritische wie konstruktive Auseinandersetzungen zu schaffen.

LITERATUR

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Bundesamt für Statistik (BFS) (2025). Hauptsprachen, 1970-2023, Stand: 24.09.2025.

Frisch, M. (1965). Öffentlichkeit als Partner. Frankfurt am Main.

Holenstein, A., Kury, P., Schulz, K., (2020). Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Baden.

Swissinfo.ch (2025). Vier von zehn Menschen in der Schweiz haben einen Migrationshintergrund – wer sind sie?, Stand: 24.09.2025.

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